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Mercur-Research | Ambiguität und gesellschaftliche Ordnung

Ambiguität und gesellschaftliche Ordnung

Pluralität und Diversität von Kulturen und Gesellschaften stehen seit längerem im Zentrum des Interesses der Geistes- und Kulturwissenschaften. Eine besondere besonders wichtige Dimension kultureller Diversität und Pluralität findet dagegen erst seit jüngstem verstärkt Beachtung: die kulturelle Ambiguität und insbesondere die Frage nach der Ambiguitätstoleranz gesellschaftlicher Ordnungen.
Der Begriff der Ambiguitätstoleranz stammt aus der Individualpsychologie. Dort bezeichnet er die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit wahrzunehmen und nicht negativ zu werten. Doch unterscheiden sich gesellschaftliche Konstellationen, historische Epochen und kulturelle Gefüge in starkem Maße dadurch, „wie Menschen Mehrdeutigkeit, Vagheit, Vielfalt und Pluralität empfinden und wie sie damit umgehen (Thomas Bauer).“ Die Frage, warum bestimmte Räume, Kulturen und Epochen ein höheres Maß an Ambiguitätstoleranz aufweisen als andere, ist bis jetzt nur an einzelnen Fällen, noch nie jedoch grundsätzlich aufgeworfen worden. Eine solche grundsätzliche Thematisierung ist das Ziel des Projektes „Ambiguität und gesellschaftliche Ordnung.“
Seine Ausgangshypothese ist: Ambiguität wird vor allem dort zum Problem, wo sie die jeweils gültigen Leitdifferenzen der gesellschaftlichen Ordnung verwischt und verunklart.
In der Systemtheorie Niklas Luhmanns bezeichnet der Begriff der Leitdifferenz binäre Unterscheidungen (Codes), die die Kommunikation in gesellschaftlichen Funktionssystemen steuern, wie wahr/falsch in der Wissenschaft, Recht/Unrecht im Rechtssystem etc. Dem Projekt liegt ein Begriff der Leitdifferenz zugrunde, der hieran anknüpft. Auch er bezeichnet binäre Unterscheidungen. Diese beanspruchen jedoch nicht nur für einzelne Funktionssysteme der Gesellschaft Gültigkeit, sondern für die gesellschaftliche Ordnung als Ganze.
Als solche Leitdifferenzen erscheinen in diachroner und transkultureller Perspektive vor allem die Unterscheidungen rechtgläubig/ungläubig (religiöse Differenz), Mann/Frau (Geschlechterdifferenz) und weiß/schwarz bzw. nicht weiß (ethnische bzw. „Rassen“-Differenz).
Ambiguitätstoleranz erscheint dort unwahrscheinlich, wo Uneindeutigkeit diese Leitdifferenzen betrifft. Denn dann stellt sie die gesellschaftliche Ordnung, die durch diese Leitdifferenzen konstituiert ist, als Ganze in Frage. Ist sie dennoch vorhanden, erscheint sie umso erklärungs- und deutungsbedürftiger. Denn nun stellt sich die Frage: Wie kann eine Gesellschaft die Verunklarung einer ihrer Leitdifferenzen aushalten oder eventuell gar nutzen?
Das Forschungsprojekt ist so angelegt, dass Personen und soziale Gruppen in den Blick genommen werden, denen ihre Umwelt eine mehr- bzw. uneindeutige Identität in Hinsicht auf eine oder auch mehrere der genannten gesellschaftlichen Leitdifferenzen zuschreibt, z.B. religiöse Konvertiten (religiöse Differenz), Kreolen und „Mischlinge“ (ethnische Differenz), Amazonen, Eunuchen und Transsexuelle (Geschlechterdifferenz). Als interdisziplinäres Projekt von Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Kunstwissenschaft vereint es komplementäre Perspektiven auf kulturelle Ambiguität und ihre Bewältigung. Während die geschichts- und kulturwissenschaftlichen Projekte stärker praxeologisch ausgerichtet sein werden und die rechtliche, politische und institutionelle Dimension der Thematik in den Blick nehmen, stehen im Fokus der literatur- und kunstwissenschaftlichen Projekte die Diskursivierung und die Performativität von Ambiguität und Ambiguitätstoleranz.
Ziel des Projektes „Ambiguität und gesellschaftliche Ordnung“ ist es, grundsätzliche Ergebnisse zu den Bedingungen der Möglichkeit von Ambiguitätstoleranz zu erzielen. Gleichzeitig bringt es Fächer und Forschungsrichtungen mit einander ins Gespräch, die die Konstruktion gesellschaftlicher Differenz seit langem analysieren, ihre Ergebnisse hier jedoch zueinander in Beziehung setzen werden: Gender, Religiosität, Geschichte des Rassismus. So steht das Projekt für einen neuartigen Zugang zu Fragen von Pluralität und Diversität in unterschiedlichen Epochen und Kulturen.

Antragsteller

Ruhr-Universität Bochum: Prof. Dr. Prof. Dr. Benjamin Scheller (Fakultät für Geisteswissenschaften, Historisches Institut), Prof. Dr. Frank Becker (Fakultät für Geisteswissenschaften, Historisches Institut, Prof. Dr. Barbara Buchenau (Fakultät für Geisteswissenschaften, Department of Anglophone Studies), Prof. Dr. Gabriele Genge (Fakultät für Geisteswissenschaften, Institut für Kunst und Kunstwissenschaft), Prof. Dr. Patricia Plummer (Fakultät für Geisteswissenschaften, Department of Anglophone Studies)

Förderlinie: Anschubförderung
Fördermittel: 46.540,00 Euro
Laufzeit 01.01.2015-31.01.2016

Ansprechpartner

Prof. Dr. Benjamin Scheller
Universität Duisburg-Essen
Fakultät für Geisteswissenschaften
Historisches Institut
Universitätsstr. 12
45141 Essen

Telefon: 0201 183-6043
benjamin.scheller (at) uni-due(dot)de